Presseinformation 129/2015

Urban Voids: Lücken in der Stadt neu codieren

Ein deutsch-koreanisches Kooperationsprojekt des KIT sucht in Karlsruhe und der Megacity Seoul nach funktionslosen „Restflächen“, um ihnen einen neuen Sinn zu verleihen
In Seoul ist die Bevölkerungsdichte mehr als fünf Mal so hoch wie in Hamburg  – trotzdem gibt es auch hier noch „Urban Voids“ (Bild: Philipp Dechow / KIT).
In Seoul ist die Bevölkerungsdichte mehr als fünf Mal so hoch wie in Hamburg – trotzdem gibt es auch hier noch „Urban Voids“ (Bild: Philipp Dechow / KIT).

Urban Voids, das sind alle Orte einer Stadt, die hinsichtlich ihrer Funktion und Ausgestaltung nicht abschließend festgelegt sind: Reserveflächen, Brachen, Abstandsflächen, Gebäudeleerstände, belastete oder ungenutzte Grundstücke. Ihnen allen gemein ist, dass sie im System Stadt keine konkrete Funktion erfüllen. Im Rahmen des deutsch-koreanischen Forschungsprojekts „Urban Voids“ suchen Wissenschaftler des KIT nun nach Möglichkeiten, diesen „Lücken in der Stadt“ einen neuen Sinn zu verleihen. Dabei konzentrieren sie ihre Suche exemplarisch auf zwei sehr unterschiedliche Orte: Karlsruhe und die Megacity Seoul.

 

Städte sind geballte Funktion, konzentrierter Nutzen, Orte randvoll mit Sinn und Zweck. Hier gibt es Flächen für Wohnen und Industrie, Kultur und Verkehr, Verwaltung, Dienstleistung, Erholung. Auf einem Stadtplan – so scheint es – ist kein Platz für Zwischenräume, kein Platz für Lücken ohne Funktion. Denn wo so viele Menschen, so viele Ansprüche zusammentreffen, muss der begrenzte Raum optimal genutzt werden.

 

Doch es gibt sie, die Funktionslücken der Stadt. Und sie können riesig sein. Der alte Hafen Londons etwa oder das Tempelhofer Feld in Berlin haben das Ausmaß eines ganzen Stadtviertels – und haben ihren ursprünglichen Sinn verloren. Doch in beiden Fällen wurde die gigantische Funktionslücke, die in der Metropole klaffte, mit neuem Zweck gefüllt. In den einst schmutzigen „Docklands“ in London wird heute „chick“ mit Blick auf die Themse gewohnt und gearbeitet. Vielen Städten gilt die britische Hauptstadt dabei als Vorbild für die Umnutzung ihrer eigenen brach liegenden Hafengebiete. Und das Tempelhofer Feld bietet heute – ganz im kreativen Berliner Bürgersinn – Raum für Erholung, Sport, Kultur und „Urban Gardening“.

 

„Gerade in Deutschland wollte man seit der Jahrtausendwende verhindern, dass Städte weiter in ihre Umgebung wachsen und unbebaute Fläche verbrauchen“, sagt Kerstin Gothe, Professorin an der Fakultät Architektur des KIT und dortige Direktorin des Instituts Entwerfen von Stadt und Landschaft. „Stattdessen konzentrierte man sich auf das Wachstum nach innen. Fläche gab es dafür genug, weil viele Warendepots, Fabrikgelände, Militärkasernen oder eben Hafengebiete in deutschen Städten aufgeben oder massiv verkleinert wurden.“ Die meisten dieser großen Bereiche sind allerdings längst in neue Wohngebiete oder Geschäfts- und Kulturviertel mit ansprechender Industriearchitektur umgewandelt worden. Nun stellen sich also zwei Fragen: Kann die Stadt weiter im Inneren kondensieren? Und kann dies behutsam und nachhaltig passieren?

 

„Wenn Städte auch künftig nicht nach außen in die Landschaft wachsen sollen, müssen wir innen fündig werden“, sagt Kerstin Gothe. Und genau das ist die Aufgabe des deutsch-koreanischen Projekts „Urban Voids“, zu deutsch etwa „Städtische Lücken“: Die systematische Suche nach kleineren funktionslosen Restflächen und Strategien, diese mit neuem Nutzen in das Funktionsgefüge der Stadt zu integrieren. Und diese Suche nach Freiräumen führen die Wissenschaftler aus Deutschland und Korea exemplarisch in zwei sehr unterschiedlichen Städten durch: Karlsruhe und Seoul.

 

Urban Voids in Karlsruhe

„Eine Erkenntnis im bisherigen Verlauf des Forschungsprojekts ist, dass die Voids in Karlsruhe und in Seoul grundsätzlich unterschiedliche Eigenschaften aufweisen“, erklärt Kerstin Gothe, die das Projekt zusammen mit Phillip Dechow am KIT leitet. „In Karlsruhe – wie übrigens in vielen anderen deutschen Städten auch – finden wir tendenziell eher größere zusammenhängende Voids. So gibt es beispielsweise entlang vieler Einfallstraßen in Karlsruhe breite Streifen als ‚Abstandsgrün‘ mit Lärmschutzwall. Diese sind zwar nach bisheriger Einschätzung nicht nutzbar, nach einer Neubewertung erweisen sich viele von ihnen aber als Potenzialflächen für verschiedenste Nutzungen, sogar als mögliches Bauland für kleinere Wohnquartiere, sofern – was möglich ist – auf die Schallbelastung durch entsprechende bauliche Maßnahmen reagiert wird. In Karlsruhe konzentriert sich die Untersuchung daher darauf, größere, heute kaum beachtete oder als unnutzbar geltende Potenzialflächen zu identifizieren und Möglichkeiten der Nutzung durch Studien darzustellen.“

 

Urban Voids in Seoul

„Anders ist die Situation der Voids in Seoul. Hier sind die Restflächen meist sehr zerstückelt und kleinteilig, so dass sie sich nicht für größere zusammenhängende neue Nutzungen anbieten. Andererseits befinden sich die Voids in Seoul oftmals in Quartieren mit starken Defiziten hinsichtlich der Lebensqualität und der ökologischen Situation. Hier erweisen sich die Voids als eine Art Flächenreservoir, das zur ökologischen Erneuerung und zur Aufwertung des Quartiers eingesetzt werden kann“, erläutert Kerstin Gothe. Beispielsweise können die Voids zur Begrünung des Quartiers eingesetzt werden, was positive Effekte auf das Mikroklima, die Wasserwirtschaft, die Luftqualität, die Lebensqualität und Gesundheit sowie die Biodiversität hätte. Manche Voids können eine wichtige Rolle bei der energetischen Sanierung von Gebäuden spielen, etwa indem sie Pufferräume aufnehmen, die die Dämmung des Hauses verbessern oder hier Heizsysteme untergebracht werden können, die mehr als ein Gebäude versorgen und damit eine höhere Effizienz aufweisen.

 

Paradigmenwechsel in der „Stadt ohne Gedächtnis“

In Seoul erweisen sich die Voids somit als ein wichtiger Baustein für eine kleinteilige Quartierserneuerung. Und diese steht mehr denn je im Fokus der südkoreanischen Stadtplaner. „Die Megacity Seoul erlebt derzeit einen Paradigmenwechsel in der Stadterneuerung“, sagt Philipp Dechow, der zwei Jahre als Gastprofessor in der Südkoreanischen Hauptstadt gelebt und gearbeitet hat. „Das bisherige System der Flächensanierung, bei dem ganze Stadtquartiere abgerissen werden, um neuen Hochhaussiedlungen Platz zu machen, erweist sich zunehmend als nicht mehr zeitgemäß und nachhaltig.“

 

Zum einen stößt das Finanzierungsmodell dieser Art der Stadterneuerung, das auf einer stetigen Erhöhung der baulichen Dichte basiert, an seine Grenzen – schon heute leben in Seoul etwa zehn Millionen Menschen auf einer Fläche in der Größe von Hamburg mit etwa 1,76 Millionen Einwohnern. Zum anderen wächst in der Bevölkerung der Widerstand gegen eine Erneuerungspolitik, durch die vorhandene soziale und funktionale Strukturen sowie alle historischen Spuren vernichtet werden. Einige schon beschlossene Flächensanierungen von Quartieren wurden mittlerweile gestoppt, neue Vorhaben der Flächensanierung wurden ausgesetzt. Doch viele der bestehenden Bauten haben erhebliche Mängel in energetischer Hinsicht und sind sanierungsbedürftig.

 

„Die Stadtregierung hat bereits neue Sanierungsprogramme aufgelegt, die eine behutsamere Form der Quartierserneuerung unter Erhalt der vorhandenen Strukturen fördern soll“, erläutert Philipp Dechow. „Da solche Verfahren jedoch in Korea bislang kaum erprobt sind, sind die planerischen und bauwirtschaftlichen Strukturen auf eine solche ‚kleinteilige‘ Erneuerung nicht ausgerichtet.“

 

Living Lab und Bauausstellung

Daher ist es ein Ziel der deutsch-koreanischen Kooperation, gemeinsam und mit den Erfahrungen aus Karlsruhe neue Konzepte und Strategien für den neuen Weg in Seoul zu entwickeln – mit besonderem Fokus auf die Lücken – die Voids der Stadt. Ein großer Meilenstein, der derzeit im Rahmen des Projekts geplant wird, ist das Seoul LivingLab, das im April 2016 veranstaltet wird. Eingeladen sind Experten aus Korea und Deutschland, um mit Unterstützung ausgewählter Studierender aus beiden Ländern und gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern integrierte Erneuerungskonzepte für ein konkretes Quartier in Seoul zu erarbeiten. Alle Beteiligten werden während des LivingLabs im Quartier leben, schlafen, essen, arbeiten und hier auch die Ergebnisse der Arbeit präsentieren, diskutieren und ausstellen.

 

Schließlich sollen die erarbeiteten Ergebnisse mit der Stadtverwaltung diskutiert werden. Zudem werden im Living Lab auch die Möglichkeiten einer Großveranstaltung nach dem Vorbild der Internationalen Bauaustellung (IBA) sondiert. Erstmalig wurde dieses Instrument 1901 bei der Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt eingesetzt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die IBA schließlich zu einem Experimentierfeld der Stadtentwicklung und damit zu einem besonderen Markenzeichen der Planungskultur in Deutschland, das weltweit Anerkennung findet.

 

„Living Lab und Bauausstellung sollen langfristig den Weg für gut realisierte Sanierungsprojekte vor Ort in Seoul ebnen“, sagt Kerstin Gothe. „Auf diese Weise werden Beispiele geschaffen, die sowohl der lokalen Bevölkerung und den Entscheidungsträgern als auch Interessierten aus aller Welt Diskussionsstoff und Vorbilder für die zentrale Frage anbieten – wie wollen wir künftig mit den Urban Voids umgehen?“

 

Das Projekt „Urban Voids – Chancen für eine nachhaltige Stadtentwicklung“ ist Forschungkooperation zwischen KIT, SNU Seoul National University, ISA Internationales Stadtbauatelier Stuttgart/Peking/Seoul, gefördert durch das BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung und das koreanische Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Technologie.

Weitere Informationen zum Projekt unter: http://www.urbanvoids.org/de/

 

Als „Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft“ schafft und vermittelt das KIT Wissen für Gesellschaft und Umwelt. Ziel ist es, zu den globalen Herausforderungen maßgebliche Beiträge in den Feldern Energie, Mobilität und Information zu leisten. Dazu arbeiten rund 9 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf einer breiten disziplinären Basis in Natur-, Ingenieur-, Wirtschafts- sowie Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Seine 22 300 Studierenden bereitet das KIT durch ein forschungsorientiertes universitäres Studium auf verantwortungsvolle Aufgaben in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft vor. Die Innovationstätigkeit am KIT schlägt die Brücke zwischen Erkenntnis und Anwendung zum gesellschaftlichen Nutzen, wirtschaftlichen Wohlstand und Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das KIT ist eine der deutschen Exzellenzuniversitäten.

ne, 30.10.2015
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