Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Beim 26. AIK-Symposium drehte sich anlässlich des 60. Geburtstages von Professor Dr. Hartmut Schmeck alles um effiziente Algorithmen, Organic Computing und die Beherrschbarkeit sich selbst organisierender, softwaregesteuerter Systeme

Mit den immer stärker aufkommenden, weitläufig vernetzten adaptiven Systemen kommt auf die Informatikforschung mit Macht die Frage nach dem optimalen Management und der dauerhaften Beherrschung weitgehend automatisierter softwaregesteuerter Abläufe zu: die Frage nach kontrollierter Selbstorganisation. Wie behält man technische Systeme unter Kontrolle, in denen natürliche Personen und künstliche Agenten miteinander, die Agenten aber auch autonom untereinander kommunizieren und agieren, in denen Computer diese Kommunikation verarbeiten und die daraus ermittelten Befehle automatisch ausführen? Wie geht man mit sich widersprechenden Interessen und Prioritätsanforderungen um? Wie kann man künstlichen Agenten beibringen, eine rationale Entscheidung, die in der aktuellen Situation als beste Lösung berechnet wurde, fallen zu lassen, also nicht auszuführen, weil ein Kompromiss an dieser Stelle längerfristig ein wesentlich besseres Ergebnis für das Gesamtsystem bringt? Wie kann man verhindern, dass die Systeme ein ungeplantes Eigenleben entwickeln, weil das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile?

Ausgelöst durch den Wunsch, komplexe technische Systeme dauerhaft beherrschbar zu gestalten, die Komplexität zu reduzieren und trotzdem die Möglichkeiten der Selbstorganisation zur Bewältigung der steigenden Anforderungen an technische Systeme zu nutzen, erforschen und entwickeln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Forschungsgebiet Organic Computing Algorithmen, Methoden, Modelle und Softwarearchitekturen für sich selbst organisierende Systeme.

Solche Systeme sollen in der Lage sein, sich selbständig an veränderte Gegebenheiten anzupassen, im Betrieb ständig dazuzulernen, sich selbst zu optimieren, Gelerntes weiter zu vererben und sich selbst zu helfen, wenn etwas nicht stimmt. Dafür werden sie von den Entwicklern mit sogenannten "Selbst-X"-Eigenschaften ausgestattet. Dazu zählen unter anderem folgende "lebensähnliche" Funktionen: Selbstkonfiguration, Selbstoptimierung, Selbstheilung, Selbstschutz und Selbsterklärung.

Algorithmen sind das Herz aller Prozesse
BegrüßungsfolieBeim 26. AIK-Symposium "Effiziente Algorithmen" in Karlsruhe, das anlässlich des 60. Geburtstages von Professor Schmeck dessen Forschungsthema "Effiziente Algorithmen für eine optimale Rechnerinfrastrukturnutzung" thematisierte, beleuchteten Wissenschaftler und Unternehmensvertreter Forschungsarbeiten und Lösungsansätze aus diesem spannenden Gebiet der Informatikforschung, das in alle Bereiche der Computeranwendung hineinwirkt. Professor Dr. York Sure, erster Vorsitzender des Vereins AIK e.V., brachte die Bedeutung des Themas wie folgt auf den Punkt: "Algorithmen sind in der Informatik das, was in der Chemie Reaktionen sind: Das Herz der Prozesse. Ohne sie geht gar nichts." Deshalb, so Sure weiter, sei es sowohl für die Funktionen, als auch für die Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit von Prozessen und Systemen so entscheidend, wie gut man sie beherrsche.

Professor Schmeck erforscht und lehrt seit zwei Jahrzehnten am Institut für Angewandte Informatik und Formale Beschreibungsverfahren (AIFB) des KIT Algorithmen für die optimale Rechnerinfrastrukturnutzung. Zentrales Thema seiner Forschungsgruppen am AIFB und am FZI Forschungszentrum Informatik ist der wirtschaftliche Einsatz moderner Rechnerinfrastrukturen. Von besonderem Interesse sind dabei vielfältig vernetzte adaptive Systeme mit der Fähigkeit zur Selbstorganisation. Professor Schmeck ist Koordinator des DFG-Schwerpunktprogramms "Organic Computing" (SPP 1183) und wissenschaftlicher Sprecher des 2009 neu eingerichteten KIT-Schwerpunktes "COMMputation", in dem Fragen zur immer stärkeren Kombination von Kommunikation und leistungsfähiger Informationsverarbeitung untersucht werden.

Ein kurzes Schlaglicht auf die Vortragsinhalte des 26. AIK-Symposiums zeigt sehr schön, wie weit das Forschungsgebiet von Professor Schmeck und seiner Kollegen streut: Effiziente Algorithmen werden in jedem softwaregesteuerten technischen System gebraucht. Während die Anzahl der Computer unaufhörlich ansteigt und verzweigte Netze die Anforderungen an die Rechenoperationen immer anspruchsvoller machen, werden technische Geräte zur Ausführung immer kleiner und Chips vielfach mit Rechenkernen bestückt. Diese Entwicklung verlangt nach weitgehend automatisierten, sich selbst organisierenden Systemen, in denen effiziente Algorithmen als Schaltzentralen auf feingranularer Ebene dafür sorgen, dass alles läuft, wie es soll.
Organic Computing zur Selbstheilung von Multicore-Chips
Weggefährten in der Organic Computing Forschung: Professor Müller-Schloer und Professor Schmeck (r.)Beim Festsymposium referierten Schmecks Weggefährten in der Organic-Computing-Forschung über bisher Erreichtes, aktuelle und zukünftige Forschungsaufgaben. Professor Dr.-Ing. Christian Müller-Schloer, Leibniz Universität Hannover, sprach über die Idee, die Ziele und bisher Erreichtes, und darüber, warum er glaubt, dass Organic Computing zukünftig zu "Social Organic Computing" werden muss (mehr dazu unter: "Selbstorganisation unter Kontrolle" weiter hinten im Text).

Professor Dr. Theo Ungerer, Universität Augsburg, referierte über "OC-Techniken für Multi- und Manycore-Prozessoren". Die mit einer Vielzahl von Rechenkernen ausgestatteten Manycore-Computerchips sollen helfen, komplexe Programme schneller auszuführen. Sie stellen dabei völlig neue Ansprüche an Programmierung und Systemdesign von Software und werfen neue Probleme auf, die durch die Minimierung in der Chipproduktion im Bezug auf die Zuverlässigkeit entstehen. Weil sich Produktionsfehler häufen, suchen die Augsburger Forscher nach Wegen, ausgefallene Kerne mit Hilfe der Erkenntnisse des Organic Computing zu umgehen, damit die Rechenoperationen trotz Hardwarefehlern zuverlässig ausgeführt werden.

Dass eine Selbstheilung "erkrankter" Systemteile möglich ist, haben wissenschaftliche Teams im Rahmen des DFG-Schwerpunkts bereits unter Beweis gestellt: Die Forschungsgruppen von Professor Dr. Erik Maehle, Universität zu Lübeck, und Professor Werner Brockmann, Universität Osnabrück, haben an einem sechsbeinigen Roboter, der mit lokalen, miteinander agierenden Algorithmen arbeitet, eine Amputation simuliert und konnten beweisen, dass die von selbstlernenden Algorithmen errechneten Umgehungsstrategien mit den verbleibenden fünf Beinen die gleichen lokalen Regeln ausführen können, wie wenn sechs Beine für den Einsatz verfügbar sind, berichtete Professor Müller-Schloer in seinem Vortrag. Die Augsburger Forschungsgruppe von Professor Ungerer hat einen "Java Manycore Evaluator" aus 64 FPGA-Boards verbunden durch ein 8x8 Netz gebaut, um Manycore-Anwendungen zu erproben und Selbstorganisation von Systemen mit Self-X-Funktionen zu erforschen. Die dem Evaluator zugrunde liegende Architektur ist eine Observer-/Controller Architektur, die auch im Schwerpunktprogramm entwickelt wurde.

Effiziente Algorithmen in der Praxis
Wofür effProffesor Merkle (Foto: Institut AIFB, Holger Prothmann)iziente Algorithmen und darauf aufsetzende Optimierung in der betrieblichen, aber auch in der wissenschaftlichen Praxis gebraucht werden und wozu man sie einsetzen kann, erläuterten Hellmuth Frey vom Energieversorger EnBW als Projektpartner von Schmeck in den Bereichen nachhaltige Energieversorgung und Elektromobilität, Dr. Christian Schmidt von der Karlsruher LOCOM Software GmbH und Professor Dr. Daniel Merkle als Schüler von Schmeck. LOCOM hat in einem Industrieauftrag die Arbeitswege, die bei der manuellen Kommissionierung von Bestellungen in einem großen Versandlager anfallen, effizient optimiert. Christian Schmidt berichtete, dass die Karlsruher Softwareberater mit ihrer Lösung die im Lager zurückgelegten Wegstrecken um 24 Prozent und den Personaleinsatz um zehn Prozent reduzieren konnten. Bei den Auslieferungstouren wurden bei gleicher Leistung 13 Touren pro Tag eingespart.

Professor Merkle, University of Southern Denmark, ebenfalls Schüler von Schmeck, entführte das Auditorium beim Festsymposium in die Genforschung und zeigte, wie er die Evolution von Spezies nach der Topologie von Biologen mit algorithmischen GesetzmäProfessor Merkle verbindet effiziente Algorithmen und Biologie.ßigkeiten evaluiert. Professor Merkle interessieren ganz besonders die Mitochondrien als Träger von Geninformationen, weil diese immer aus 37 Genen bestehen und sich deshalb besonders gut für rechnerische Vergleiche eignen. Aber auch Katzenschwänze haben es ihm angetan, weil sie eine Besonderheit aufweisen: Sie sind unterschiedlich gemustert, an der Schwanzspitze aber sind alle immer gestreift. Merkle zeigte dazu eine Zeichnung, mit er sich "damals" bei Professor Schmeck beworben hatte, weil er sich in der Forschungsgruppe intensiv mit naturinspirierten Algorithmen beschäftigen wollte.

Hellmuth Frey, bei EnBW Projektleiter der E-Energy-Modellregion Baden, erklärte: "Wir brauchen Lösungen für eine nachhaltige Energieversorgung unter starker Einbeziehung der Informations- und Kommunikationstechnik." Erzeugung und Verbrauch müssten ausgewogen sein, damit es nicht zu Instabilitäten komme, so Frey. Der Flexibilität auf der Verbraucherseite müsse eine Flexibilität auf der Erzeugerseite entgegengesetzt werden, "um die erneuerbaren Energien sinnvoll in den Netzen umsetzen zu können".

In allen drei genannten Gebieten, der Energieeffizienzforschung, der Logistikoptimierung und der Biologie arbeiten die Wissenschaftler mit effizienten Algorithmen, um die anstehenden umfassenden Rechenoperationen ausführbar zu machen. Die Wissenschaftler hoffen, die hohen Anforderungen aus großen verteilten Netzen durch sich selbst organisierende Systeme bewältigen zu können; jene besagten Systeme, die sich selbstständig konfiguieren, optimieren, schützen, heilen und erklären.

Professor Schmeck als Energieforscher
"Als ich vor knapp 20 Jahren ans Institut AIFB kam, waren effiziente Algorithmen Inhalt meiner Forschungsarbeit. Das sind sie immer noch. Aber wenn mir jemand vor wenigen Jahren gesagt hätte, dass ich mich heute mit der Sicherung der Energieversorgung beschäftige, hätte ich ihn für verrückt erklärt", so Professor Schmeck in seiner Zusammenfassung beim AIK-Symposium. Der Bedarf an effizienten Algorithmen und Erkenntnissen des Organic Computing ist im Energiesektor sehr groß, unter anderem verursacht durch die erneuerbaren Energien, um nur ein Beispiel zu nennen. Probleme entstehen, weil Angebot und Nachfrage zeitlich zu stark voneinander abweichen. Das heißt, Engpässe drohen nicht wegen zu hohen Energiebedarfs, sondern wegen des unberechenbaren weil wetterabhängigen Überangebotes aus der regenerativen Energiegewinnung mit z.B. Photovoltaik- und Windenergie-Anlagen. Dieser Bedarf der intelligenten Steuerung von Energiesystemen hat Professor Schmeck nun zu einem Energieforscher gemacht, der sich am KIT und am FZI intensiv mit Fragen zu E-Energy und Elektromobilität (eMobillity) beschäftigt, beispielsweise in den vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Projekten MeRegio zur Gestaltung und Erprobung von Minimum-Emissions-Regionen (IKT zur CO2-Minimierung und Klimaschutz) und MeRegioMobil, einem korrespondierenden Vorhaben mit dem Ziel, IKT-basierte Schlüsseltechnologien und Dienste für den Betrieb von Fahrzeugen und Flotten sowie die Integration der Elektromobilität in Energie- und Verkehrsnetze zu entwickeln und zu erproben.

Schlagworte zu den Forschungs- und Entwicklungsansätzen rund um eEnergy sind Smart Grid, Smart Home und Smart Metering. Dahinter verbirgt sich die Suche nach Lösungen, durch welche Energieversorgungsnetze flexibel und in die Lage versetzt werden, sich weitgehend selbst zu organisieren, also Einspeisung und Nachfrage vernünftig auszubalancieren, überschüssige Energie preisgünstig anzubieten oder sie Elektroautos zuzuführen, die man als Energiespeicher im Smart Home nutzen will. Intelligente Verbrauchssteuerung soll bei Knappheit Energiesparvorschläge und bei Überschuss Energieangebote machen. Durch detaillierte Verbrauchsmessung will man die Tarifgestaltung als Lenkungsmittel nutzen. Zu allen diesen Bereichen sind bereits Forschungs- und Entwicklungsarbeiten angelaufen, für die Organic Computing grundlegende Erkenntnisse bereitstellt. Professor Schmeck und seine Forschungsgruppen begleiten sie.

Selbstorganisation unter Kontrolle
Kann es in solchen Szenarien gelingen, die Hoheit über die Prozessabläufe dauerhaft beim Menschen zu halten? Professor Müller-Schloer relativierte in seinen Ausführungen zunächst die Bewertung: "Self-X ist nichts Magisches. Es wird von Menschen gemacht, auch wenn die Systeme später bis zu einem gewissen Grad Eigenleben entwickeln, was ja gewollt ist. Die Kernherausforderung lautet: kontrollierte Emergenz." Hier setzen die Organic-Computing-Wissenschaftler auf eine alte Ingenieurstechnik: die permanente Beobachtung der ausgeführten Aktionen mit definierten Verhaltensregeln bei Über- oder Unterschreitung vorgegebener Prozessgrößen. Umgesetzt wird das in einer Observer/Controller-Architektur für die Softwaresysteme. "Nun wird uns der Vorwurf gemacht, dass wir Komplexität reduzieren wollten und noch mehr Komplexität produzieren. Das ist bis zu einem gewissen Grad richtig. Aber wir wollen, dass das System das tut, was wir wollen, und dafür ist zusätzlicher Aufwand auf den Observer/Controller-Ebenen nötig. Wichtig ist dabei das Prinzip der 'Nicht-kritischen Komplexität': Das System muss auch noch einwandfrei funktionieren, wenn die Überwachungsebenen ausfallen sollten", erklärte Professor Müller-Schloer.

Agenten seien, wenn sie rational rechnen, egoistisch. Aber rationale Entscheidungen seien nun einmal nicht immer richtig, vor allem, wenn es um das langfristige Gemeinwohl geht. Aber auch dann, wenn nur die Kameras an einer Kreuzung von allen Seiten gleichzeitig gleich starken Fahrzeugstau registrieren, müssen die Agenten, die die Ampelschaltung regeln, bereits eine Konfliktsituation lösen. Professor Müller-Schloer sieht ein übergeordnetes Rechte- und Normensystem als geeignetes Mittel zur Auflösung von konkurrierenden Situationen in selbstorganisierten Systemen. "Komplexe Gesellschaften sind nie flach organisiert. Konflikte werden in ihnen immer mit Hilfe von Normen, Regeln und Sanktionen unter Kontrolle gebracht." Zunächst, so der Wissenschaftler, sollen sich die künstlichen Agenten in einer erweiterten Interaktionsschicht auf gleicher Augenhöhe über ihre Ziele einigen und ihre Pläne abstimmen können. Wenn auf dieser Ebene für die Agenten unlösbare Konflikte auftreten, müssen mit Hilfe eines übergeordneten Rechtesystems Normen erzwungen werden. Professor Müller-Schloer bezeichnet dies als einen "fast schon demokratischen Prozess" und die Kommunikation im System als "soziale Interaktion der Agenten".

Social Organic Computing: Künstliche Agenten werden emotional
Für das Sozialverhalten innerhalb der Gesellschaft sind Emotionen eine ganz wichtige Größe. Mit ihrer Hilfe wird entschieden, was in welcher Situation am besten angebracht erscheint. Professor Müller-Schloer will diese menschliche Fähigkeit nun auch auf Agenten übertragen, um sie zu befähigen, bei Bedarf rationale Entscheidungen im Hinblick auf das Gesamtwohl abwägen zu können. Wichtigste Punkte seien hier Vertrauen und Zufriedenheit, die er zu formal beschreibbaren Größen machen will, um sie als technisches Äquivalent für Emotionen auf die Agenten zu übertragen. Mit emotionalen Fähigkeiten ausgestattete künstliche Agenten sollen also auf die Richtigkeit der Entscheidung eines Anderen vertrauen können, gemeinsam mit anderen nach der besten Lösung für ein Problem suchen und lernen, mit einem erreichten Ausführungsstand der von ihnen verantworteten Operationen zufrieden zu sein, auch wenn er rein rechnerisch noch optimierbar wäre. Aufsetzend auf den Emotionen könnte Gruppenzufriedenheit definiert und berechnet werden. Professor Müller-Schloer ist überzeugt: "Agenten müssen lernen, dass sie vorübergehend einen untergeordneten Stellenwert haben. Das bedeutet: Die Agenten sind nicht mehr autonom. Aber vollständige Autonomie wollten wir eigentlich nie. Hartmut Schmeck wird nie müde zu sagen, 'Wir brauchen letztendlich den Menschen als höhere Kontrollinstanz'. Ich selbst nenne es eine Semiautonomie, in der die Kontrolle von oben und die Autonomie von unten in Einklang gebracht werden. Das ist für mich Social Organic Computing."


26.10.2010