Presseinformation 021/2010

Zellen erobern den Raum

Karlsruher Wissenschaftler entwickeln elastische dreidimensionale Mikrostrukturen für die Zellkultur
Zellen (rot und grün gefärbt) haften an den nur etwa ein Tausendstel Millimeter dicken Balken der elastischen Mikrostruktur. (Quelle: M. Rill )
Zellen (rot und grün gefärbt) haften an den nur etwa ein Tausendstel Millimeter dicken Balken der elastischen Mikrostruktur. (Quelle: M. Rill )

Trotz ihrer Bedeutung für die biologische Forschung hat die klassische Zellkultur ihre Grenzen: Im Gewebe leben Zellen im räumlichen Verband, während sie in der Kulturschale nur in zwei Dimensionen wachsen können. Wissenschaftler am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) haben jetzt ein Verfahren vorgestellt, mit dem sie beliebig strukturierte dreidimensionale und flexible Substrate herstellen können. Die Methode eröffnet neue Möglichkeiten für die Erforschung der Zellbewegung und –differenzierung. (Advanced Materials 22, 868 (2010))

Die Welt ist eine Scheibe – zumindest für Zellen auf dem Boden einer Petrischale. Außer in der obersten Zellschicht etwa auf der Haut oder im Darm leben Zellen im Organismus aber in einer dreidimensionalen und flexiblen Umgebung. „Sie treten auf ihrer gesamten Oberfläche in Kontakt mit Nachbarzellen und der extrazellulären Matrix, die dem Körpergewebe Festigkeit und Elastizität verleiht“, erläutert Professor Martin Bastmeyer vom DFG-Centrum für Funktionelle Nanostrukturen (CFN) des KIT. An deren Fasern, die aus unterschiedlichen Molekülen bestehen, können Zellen fest anhaften oder sich wie in einem dreidimensionalen Klettergerüst fortbewegen. Zusammensetzung und Struktur der Matrix beeinflussen Verhalten und Entwicklung der Zellen, die wiederum die Matrix auf- oder umbauen und verformen.

Dieses Wechselspiel untersucht Bastmeyer mit seinen neuen künstlichen Strukturen aus elastischen, langen Elementen mit einem Durchmesser von weniger als einem Tausendstel Millimeter. Für ihre Herstellung nutzt die Arbeitsgruppe ein als Direktes Laserschreiben (DLS) bezeichnetes Verfahren, das die Physiker Professor Martin Wegener und Dr. Georg von Freymann am CFN entwickelt haben. Dabei schreibt ein computergesteuerter, fokussierter Laserstrahl in einem Fotolack wie ein Stift in drei Dimensionen. Bei der Entwicklung bleiben die belichteten Bereiche stehen, die dann mit einem Protein beschichtet werden, an dem die Zellen anhaften können.

Auf diesen Strukturen ausgesäte Herzzellen aus Hühnerembryonen beginnen nach wenigen Tagen, sich rhythmisch zusammenzuziehen und die elastischen, dünnen Balken zu verbiegen. „Vergleichende Messungen mit dem Rasterkraftmikroskop zeigen, dass sie dabei eine Zugkraft von 47 Nanonewton entwickeln. Das würde ausreichen, um eine Masse von etwa fünf Millionstel Gramm zu bewegen“, erklärt die Biologin Dr. Franziska Klein. „Grob gerechnet könnte ein Würfel aus dicht gepackten Zellen mit einer Kantenlänge von fünf Zentimetern fast fünf Kilogramm anheben.“

Weiterführende Experimente mit anderen Strukturen sollen klären, wie Zellen auf unterschiedliche mechanische Eigenschaften und räumliche Gegebenheiten ihrer Umgebung reagieren. Hierfür will das Team aus Biologen und Physikern größere und komplexere Strukturen realisieren, in die Zellen wie in einen porösen Schwamm einwandern können. Die Ergebnisse könnten dabei helfen, Kulturbedingungen für die Gewebezucht und die Regenerative Medizin mit Stammzellen zu optimieren.

Literatur:
Elastic Fully Three-dimensional Microstructure Scaffolds for Cell Force Measurements. Franziska Klein, Thomas Striebel, Joachim Fischer, Zhongxiang Jiang, Clemens M. Franz, Georg von Freymann, Martin Wegener, and Martin Bastmeyer. Advanced Materials 22, 868 (2010)
 DOI: 10.1002/adma.200902515

Hintergrundinformation:

Extrazelluläre Matrix (extracellular matrix, ECM)
Die ECM füllt vor allem im Bindegewebe den Raum zwischen den Zellen aus. Sie ist ein Gemisch unterschiedlicher Komponenten, dessen Zusammensetzung je nach Gewebetyp variiert. Wichtige Bestandteile sind verschiedene Arten von Kollagen, das vor allem Festigkeit und Elastizität verleiht. Fibronektin, Laminin oder Vitronektin sind als Adhäsionsproteine für die Anhaftung von Zellen von Bedeutung. Moleküle wie Hyaluronsäure oder Chondroitinsulfat verleihen zum Beispiel Knorpel seine besonderen Eigenschaften. Die ECM beeinflusst sowohl über ihre biochemische Zusammensetzung als auch über ihre mechanischen Eigenschaften die Zellen.

Direktes Laserschreiben (DLS)
Das DLS ist ein fotolithografisches Verfahren zur Herstellung beliebiger dreidimensionaler Mikrostrukturen. Im Mikroskop wird Fotolack, der über einem computergesteuerten, piezogetriebenen Tisch in drei Ebenen bewegt wird, durch das Objektiv mit Femtosekunden-Impulsen eines stark fokussierten Laserstrahls belichtet. In dem eng umrissenen Bereich, in dem der Fotolack von dem Strahl getroffen wird, wird die Löslichkeit des Materials verändert. Je nach Art des Fotolacks werden im Entwicklungsbad die belichteten oder die unbelichteten Regionen ausgewaschen. Aufgrund der hohen optischen Auflösung können mit DLS Strukturierungen von 150 Nanometer (1 Nanometer = 1 Millionstel Millimeter) in Objekten mit einer seitlichen Ausdehnung von maximal 0,3 mm und einer Höhe von 0,08 mm realisiert werden. Das am Centrum für Funktionelle Nanostrukturen entwickelte DLS-System wird inzwischen über die Unternehmensausgründung Nanoscribe GmbH vertrieben. www.nanoscribe.de

Berechnung der Zugkraft eines Würfels von Zellen
Die Berechnung beruht auf grob vereinfachenden Annahmen und kann deshalb nur einen ungefähren Näherungswert geben:
Ein Würfel mit einer Kantenlänge von fünf Zentimetern, der aus dicht gepackten (idealisierten) würfeligen Zellen mit einer Kantenlänge von 50 Mikrometern (0,05 mm) besteht, enthält eine Milliarde Zellen (1000 x 1000 x 1000). Eine Zelle entwickelt eine Kraft von 47 Milliardstel Newton (47 Nanonewton). Der Zellwürfel bringt damit eine Kraft von 47 Newton auf. Auf eine Masse von 1 kg wirkt die Erdanziehung mit einer Kraft von 9,81 Newton. 47 Newton reichen demnach aus, um eine Masse von 4,79 kg anzuheben.

 

Als „Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft“ schafft und vermittelt das KIT Wissen für Gesellschaft und Umwelt. Ziel ist es, zu den globalen Herausforderungen maßgebliche Beiträge in den Feldern Energie, Mobilität und Information zu leisten. Dazu arbeiten rund 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf einer breiten disziplinären Basis in Natur-, Ingenieur-, Wirtschafts- sowie Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Seine 22 800 Studierenden bereitet das KIT durch ein forschungsorientiertes universitäres Studium auf verantwortungsvolle Aufgaben in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft vor. Die Innovationstätigkeit am KIT schlägt die Brücke zwischen Erkenntnis und Anwendung zum gesellschaftlichen Nutzen, wirtschaftlichen Wohlstand und Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das KIT ist eine der deutschen Exzellenzuniversitäten.

gk, 02.03.2010
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