Presseinformation 019/2012

Wie der Schnee ins Rutschen gerät

Materialforscher des KIT untersuchen neue Hypothese zur Auslösung von Lawinen
Lawinenauslösung im Schneeblock: Beschleunigungssensoren in der Schneedecke messen die Bruchgeschwindigkeit. (Foto: A. van Herwijnen)
Lawinenauslösung im Schneeblock: Beschleunigungssensoren in der Schneedecke messen die Bruchgeschwindigkeit. (Foto: A. van Herwijnen)

Wie Lawinen entstehen, schien seit Jahrzehnten geklärt – die  Schneeforschung weltweit ging vom Scherriss-Modell aus: Laut dieser Theorie kommt die oberste Schicht einer Schneedecke lokal ins Rutschen und dieser Prozess pflanzt sich in die umliegende Schneedecke fort. Rund ein Drittel der Lawinenauslösungen lassen sich so jedoch nicht erklären. Ein Forscherteam des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) vertritt eine grundsätzlich andere Hypothese: Es macht so genannte Antirisse für die Lawinenentstehung verantwortlich.

Schnee ist in Schichten aufgebaut, die relativ fest miteinander verbunden sind – nur ein Bruch kann sie voneinander lösen. Dabei breitet sich ein Riss zwischen zwei benachbarten Schichten aus und löst sie voneinander ab: Eine Lawine entsteht. Als Ursache für das Risswachstum wurde bislang das Versagensmodell des Scherrisses herangezogen. „Es gibt aber erhebliche Widersprüche zwischen den Aussagen dieses Modells und den Beobachtungen und Messungen vor Ort“, sagt Dr. Joachim Heierli vom Institut für Angewandte Materialien (IAM). „Scherrisse können sich in flachem Gelände nicht ausbreiten, trotzdem kommt es dort nicht selten zu Brüchen in der Schneedecke.“ Außerdem können Scherrisse das Phänomen der Fernauslösungen nicht erklären. Dabei treten Lawinen an einer anderen Stelle auf, als sie ausgelöst wurden, beispielsweise im Hang über einem Skifahrer.

Die KIT-Forscher untersuchen deshalb ein neues Modell für die Entstehung von Lawinen, den Antiriss. Er entsteht dann, wenn zwei Schichten stark gegeneinander gepresst werden und die schwächere von beiden kollabiert. Dabei wird Energie frei, die den Bruch in alle Richtungen ausbreitet. Das gleiche geschieht laut Heierli auch bei der Entstehung einer Lawine: „In der Schneedecke gibt es fast immer instabile Zwischenschichten, sozusagen die Sollbruchstellen. Das kann zum Beispiel eine besonders poröse Zwischenschicht sein. Durch das Gewicht der darüber liegenden Schneedecke ist diese Schicht ständig in Einsturzgefahr. Beginnt sie zu kollabieren, ist der Prozess oft nicht mehr aufzuhalten. Die Schneekörner werden in die leeren Zwischenräume gepresst und der Vorgang pflanzt sich in alle Richtungen fort.“ Innerhalb von Sekundenbruchteilen breitet er sich um bis zu 100 Meter aus, erst dann wird seine eigentliche Wirkung sichtbar: Der Bruch hat zwei Schneeschichten großflächig voneinander gelöst – und die Lawine gerät ins Rutschen.

Bei ihren Feldexperimenten legen die KIT-Wissenschaftler Schneeblöcke frei und suchen nach den schwachen Zwischenschichten, die meist 50 bis 100 Zentimeter unter der Oberfläche, manchmal auch tiefer liegen. Dort schneiden sie eine Kerbe ein, die einen Antiriss auslöst und messen die Parameter der Bruchausbreitung. Derzeit werden zahlreiche solcher Experimente durchgeführt, um die Aussagen der Scherriss- und Antiriss-Modelle zu vergleichen und mit den Feldbeobachtungen zu konfrontieren. Bislang deutet tatsächlich vieles auf den Antiriss hin, sagt Dr. Joachim Heierli: „Bei sämtlichen Brüchen, die man bisher vermessen hat, ist die Zwischenschicht stets kollabiert, es ist also immer ein Antiriss aufgetreten.“ Künftig werde die Schneeforschung wohl davon ausgehen müssen, dass Antirisse und nicht Scherrisse für die Schneebrettauslösung ursächlich sind. Das könnte die Lawinenvorhersage wesentlich verbessern, so die KIT-Forscher.

 

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che, 06.02.2012
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